ARBEITSRECHT | SONDERBEITRAG | Recht auf Urlaub: praktische Folgen der Urteile des französischen Kassationsgerichtshofs vom 13. September
Durch die Urteile vom 13. September 2023 hat die Sozialkammer des Kassationsgerichtshof das französische Urlaubsrecht wesentlich geändert.
In mehreren Urteilen vom 13. September hat der Kassationsgerichtshof das Recht auf bezahlten Jahresurlaub als einen wesentlichen Grundsatz des Arbeitsrechts der Europäischen Union anerkannt und sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union berufen, um die Anwendung von Artikel L.3141-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs auszuschließen. Dieser Artikel macht den Erwerb von Urlaubsansprüchen davon abhängig, dass während des Erwerbszeitraums für Urlaubsansprüche tatsächlich gearbeitet wurde.
Der Kassationsgerichtshof bezieht sich auf das Recht der Arbeitnehmer auf bezahlten Jahresurlaub und das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Gesundheitszustands und vertritt die Auffassung, dass ein Arbeitnehmer während einer Krankschreibung weiterhin Anspruch auf bezahlten Urlaub erwirbt.[1]
Die Verjährungsfrist für einen Anspruch auf Nachzahlung von Urlaubsentgelt beginnt nach Ansicht des Kassationsgerichts nur dann zu laufen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in die Lage versetzt hat, Urlaub zu nehmen.[2]
Schließlich hat das Gericht entschieden, dass die Elternzeit nicht dazu führt, dass der Arbeitnehmer seine vor der Elternzeit erworbenen Urlaubsansprüche verliert, und ist nunmehr der Auffassung, dass der Arbeitnehmer diesen Urlaub nach der Elternzeit nehmen kann. Der vor der Elternzeit nicht genommene Urlaub verfällt also nicht mehr.[3]
Die Urteile des Kassationsgerichtshof sind ausführlich kommentiert und kritisiert worden. Die vorliegende Mitteilung soll diese Kommentare nicht ergänzen, sondern den Mandanten von GGV Avocats – Rechtsanwälte die Auswirkungen auf die Praxis anhand konkreter Beispiele aufzeigen.
Arbeitgeber sind aufgrund dieser Entscheidungen nicht nur verpflichtet, die Anzahl der Urlaubstage aller Arbeitnehmer neu zu berechnen. Sie müssen auch darauf vorbereitet sein, dass ausgeschiedene Arbeitnehmer, die von der neuen Rechtslage betroffen sein können, eine Nachzahlung von Urlaubsentgelt fordern.
Solche Forderungen stellen für einige Arbeitgeber aufgrund der vom Kassationsgerichtshof festgelegten Verjährungsregelung eine große finanzielle Herausforderung dar. Der Kassationsgerichtshof ist der Ansicht, dass die Verjährungsfrist für die Geltendmachung von Urlaubsentgelt mit dem Ende des gesetzlichen oder von einer Kollektivvereinbarung festgelegten Zeitraums beginnt, in dem der bezahlte Urlaub hätte genommen werden können, sofern der Arbeitgeber beweisen kann, dass er die ihm gesetzlich obliegenden Maßnahmen ergriffen hat, um dem Arbeitnehmer die Ausübung seines Rechts auf Urlaub zu ermöglichen.
Es handelt sich die folgenden Maßnahmen: der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer nach dem Ende seiner krankheitsbedingten Abwesenheit über seine Urlaubsansprüche informieren, d.h. ihm die Anzahl der Urlaubstage mitteilen, die er – auch während seiner Krankschreibung – erworben hat, und ihn auffordern, diese Urlaubstage zu nehmen. Andernfalls, wenn der Arbeitnehmer beispielsweise erneut krankgeschrieben wird, ohne seine Urlaubstage genommen zu haben, häufen sich die Urlaubstage weiter an…
Der Kassationsgerichtshof hat außerdem geurteilt, dass eine finanzielle Abgeltung von Urlaubstagen im laufenden Arbeitsverhältnis die Inanspruchnahme des Urlaubs nicht ersetzen kann.[4]
Die konkreten Auswirkungen dieser Rechtsprechung zeigen sich bereits in den Urteilen des Berufungsgerichts Paris vom 27. September 2023 und vom 12. Oktober 2023, in denen der o.g. Artikel L.3141-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs nicht angewandt wurde. Das Berufungsgericht hat zwei Klagen auf Nachzahlung von Urlaubsentgelt stattgegeben. In einem Fall waren die Urlaubstage während der krankheitsbedingten Abwesenheit einer Arbeitnehmerin und vor ihrem Antrag auf richterliche Kündigung ihres Arbeitsvertrags angefallen (Urteil vom 27. September 2023[5]), in dem anderen Fall vor der Entlassung eines Arbeitnehmers wegen Arbeitsunfähigkeit (Urteil vom 12. Oktober 2023[6]).
Die Aus- bzw. Nachzahlung von Urlaubsentgelten erfolgt z.B. in den folgenden Fällen:
- Ein Arbeitnehmer hat einen auf zwei Monate befristeten Arbeitsvertrag abgeschlossen, während dessen er einen Monat lang krankheitsbedingt abwesend war:
Das Urlaubsentgelt, das bei Vertragsende ausgezahlt werden muss, wird für die gesamte Vertragsdauer berechnet. D.h. es müssen 5 Werktage bzw. 4,16 Arbeitstage Urlaub und nicht lediglich 2,5 Werktage bzw. 2,08 Arbeitstage Urlaub abgegolten werden.
- Ein unbefristet beschäftigter Arbeitnehmer, der an einer Langzeiterkrankung leidet und regelmäßig mehrere Wochen während des Zeitraums für den Jahresurlaub abwesend war:
Die Urlaubstage für die Zeiten der Abwesenheit müssen berechnet werden und der Arbeitnehmer muss über die Anzahl der ihm noch zustehenden Urlaubstage informiert und aufgefordert werden, diese zu nehmen.
- Ein Arbeitnehmer, der der länger krankgeschrieben war (insgesamt 18 Monate lang) und der nach einem Jahr Elternzeit wegen Arbeitsunfähigkeit und Unmöglichkeit einer anderweitigen Weiterbeschäftigung entlassen wurde:
Im Rahmen der Schlussrechnung ist auch das Urlaubsentgelt für die Urlaubstage auszuzahlen, die der Arbeitnehmer während seiner krankheitsbedingten Abwesenheit erworben hat.
- Ein Arbeitnehmer, der die richterliche Kündigung seines Arbeitsvertrags beantragt hat und dann bis zum Urteil des Arbeitsgerichts wiederholt krankgeschrieben war:
Der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer das Urlaubsentgelt für die Urlaubstage auszahlen, die er bis zum Tag der richterlichen Kündigung seines Arbeitsvertrags erworben hat.
- Ein Arbeitnehmer, der aufgrund von Arbeitsüberlastung viele Urlaubstage nicht nehmen konnte, anschließend wegen “Burn-out” für längere Zeit krankgeschrieben war und dann selbst gekündigt hatte:
Diesem Arbeitnehmer ist im Rahmen der Schlussrechnung ein Urlaubsentgelt auch für die vor und während seiner krankheitsbedingten Abwesenheit erworbenen Urlaubstage auszuzahlen.
[1] Cass. Soc., 13 septembre 2023, n° 22-17340 à 17342
[2] Cass. Soc., 13 septembre 2023, n° 22-10.529
[3] Cass. Soc., 13 septembre 2023, n° 22-14.043
[4] Cass Soc. 13 juin 2012 n° 11-10929
[5] CA Paris, Pôle 6, Ch. 9, 27 septembre 2023, RG n°21/01244
[6] CA Paris, Pôle 6, Ch. 10, 12 octobre 2023, RG n°20/03063